Grundlegendes zur Palliativmedizin

Am 2.2.09 habe ich vor den Ärzten der Bereitschaftsdienstgruppe München Land 04 ein Referat zu den Grundlagen der palliativen Versorgung im Landkreis München Süd gehalten. Den Volltext finden Sie hier als PDF-Datei: Referat Palliativmedizin.

Sehr verehrte, liebe Kollegen,

"die wissenschaftlichen Überzeugungen von heute sind die Irrtümer von morgen " – ein Satz, den wir alle schon schmerzlich zu spüren bekommen haben. Manch eine therapeutische Gewissheit, auf die man sich fest verlassen konnte, gilt zwischenzeitlich als Kunstfehler.

Aber es gibt eine, ja vielleicht nur eine einzige medizinische Gewissheit, die für uns alle und ausnahmslos bleibende Gültigkeit besitzt: Jeder einzelne von uns und jeder einzelne unserer Patienten wird sterben. Und obwohl, oder vielleicht auch weil, kaum eine Tatsache eine so universelle Gültigkeit besitzt wie unser aller kommender Tod, denkt kaum jemand gerne an dieses bevorstehende Ereignis. Der Tod wird gesellschaftlich weitgehend tabuisiert, man redet nicht darüber. Dies zeigt sich u.a. auch an dem Mangel statistisch valider Daten, um die tatsächlichen Umstände des Sterbens zu beschreiben. Nach Prof. Borasio[1] starben 2007 etwa 45 %, nach anderen Quellen sogar 60-80 %[2], der etwa 830.000 in Deutschland verstorbenen Menschen in Krankenhäusern, 25% sterben zu Hause, 25 % sterben im Heim, jeweils etwa 1% starben auf einer Palliativstation oder einem Hospiz und ca. 3% starben anderswo. Die häufigste Todesursache sind Herz-Kreislauferkrankungen (43,4 %), gefolgt von Tumorerkrankungen (25,6 %) und Erkrankungen des Atmungssystem (7,4 %)[3].

Zwar ist der Wunsch nach einem schnellen und guten Tod weit verbreitet ("Abends zu Bett gehen und morgens tot aufwachen") in einer Vielzahl von Fällen ist der Tod aber ein langsamer, planbarer Prozess, der sich über Tage und Wochen ankündigt und reichlich Gestaltungsspielraum für die äußeren Umstände des Sterbens zulässt.

Etwa 75 % Prozent der Tumorpatienten[4] wünschen sich einen Lebensabschluss in der Ihnen vertrauten häuslichen Umgebung. Tatsächlich kann aber nur 33% Prozent dieser Patienten dieser Wunsch erfüllt werden. Die restlichen Patienten versterben im Krankenhaus oder im Heim, zumeist umgeben von Ihnen unbekannten Ärzten und Schwestern, meist in einer sterilen Umgebung und häufig unter erheblichem Zeit- und Bettendruck, der wenig Platz für persönlichen Abschied und Trauer zulässt.

Krankenhäuser verstehen sich eben zuallererst als Orte der Gesundung, der Tod ist hier eher ein unerwünschtes Missgeschick. Gerade die großen Akutkliniken können die Intimität und Kontinuität einer effektiven Sterbebegleitung nicht bieten.

Genau aus dieser offensichtlichen Missachtung des Todes als eigentlich relevantestes Ereignis im Leben jedes Menschen ist in England in den 1960er Jahren unter dem Einfluß von Cicely Saunders die Hospizbewegung entstanden. Eine Bewegung, die versucht, den tod- und schwerstkranken für die es keine Heilung mehr gibt, zumindest eine maximale symptomatische Therapie und einen würdevollen Tod zu ermöglichen. Unter Einfluss dieser Bewegung hat sich dann in den 80er und 90er Jahren die Palliativmedizin entwickelt, die der grundlegenden Aufgabe des Arztes, Leiden und Schmerzen zu lindern, einen Namen gibt.

Palliativmedizin ist nach WHO "die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten (und Ihrer Angehörigen), mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung der Schmerzen, anderer Krankheitsbeschwerden, psychologischer, sozialer und spiritueller Probleme höchste Priorität besitzt". Oder in den Wort der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP): "Palliativmedizin ist die Behandlung von Patienten mit einer nicht heilbaren progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung, für die das Hauptziel der Begleitung die Lebensqualität ist ".

Eine solche Betreuung eines Sterbenden kann i.A. nicht durch einen einzelnen Arzt geleistet werden. Vielmehr muss für jeden Palliativpatienten ein Netzwerk aus Betreuungspersonen gebildet werden, zu dem Hausarzt, Krankenhausarzt, Palliativmediziner, Fachärzte, Angehörige, Pflegedienst, Palliativstation, Seelsorger, Apotheker, Sanitätshaus, Sozialarbeiter, Ehrenamtliche usw. gehören können. Im Vordergrund steht immer die Würde des Patienten und eine bestmögliche Symptomkontrolle. Palliativmedizinische Leitsymptome im letzten Lebensjahr von Tumorpatienten sind Schmerzen (84%), Kachexie (71%), Übelkeit und Erbrechen (51%), Dyspnoe (47%), Obstipation (47%), Depressionen (38%), Verwirrtheit (33%), Sorgen/Ängste Familie (33%), Sorgen/Ängste Patient (25%)[5]. Wichtige Symptome in der Terminalphase sind: Somnolenz (55%), Rasselatmung (45%), Unruhe (43%), Schmerzen (26%), Dyspnoe (25%), Übelkeit/Erbrechen (14%).[6]

Der durchschnittliche deutsche Hausarzt betreut im Jahr 2 bis 3 Palliativpatienten. Zu wenig, als dass sich bei einer insgesamt schlechten Bezahlung der palliativen Betreuungssituation eine kostenintensive Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung Palliativmedizin wirklich lohnt. Die Bundesärztekammer empfiehlt deshalb auch eine Aufteilung der Palliativversorgung in eine Allgemeine Palliative Versorgung (APV), die von den Hausärzten und Pflegediensten geleistet wird, und eine ergänzende Spezialisierte Ambulante Palliative Versorgung (SAPV), die von besonders qualifizierten Ärzten und Fachpflegekräften, sog. Palliative Care Teams (PCT) angeboten wird[7]. Seit 1.4.2007 hat jeder gesetzlich krankenversicherte Patient in einer palliativen Versorgungssituation Anspruch auf eine SAPV. Die SAPV soll über ein rund um die Uhr geschaltetes Telefon erreichbar sein und hilft bei der Netzwerkbildung und steht bei palliativen Problemsituationen mit Rat und Tat zur Seite.

Von den 130 Millionen für das Jahr 2007 für die SAPV zur Verfügung gestellten Euros sind aber tatsächlich nur etwa 500 000 Euro abgefragt worden. Woran liegt das? Zum einen ist die Tatsache der Möglichkeit einer SAPV an sich nur wenig bekannt, zum anderen sind die notwendigen Strukturen, die den hohen Anforderungen der SAPV gerecht werden, noch gar nicht flächendeckend ausgebaut.

Auch in unserer insg. strukturstarken Region ist die SAPV erst am entstehen. Ein PCT für den südlichen Landkreis München wird sich aus Mitarbeitern des Palliativen Beratungsteams der Caritas in Taufkirchen, Ärzten der Palliativstationen der Krankenhäuser München-Harlaching und -Neuperlach und einigen palliativmedizinisch zusatzqualifizierten niedergelassenen Ärzten aus dem Landkreis zusammensetzen. Ziel ist es, den Kollegen im Landkreis rund um die Uhr einen palliativmedizinisch kompetenten Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen, der telefonisch oder vor Ort beim Hausbesuch, die Versorgungssituation unterstützt, weitere Ansprechpartner vermittelt, bei der Bildung des patientenindividuellen Betreuungsnetzwerkes hilft und die verschiedenen Aktivitäten koordiniert.

In unserer Gemeinde leben laut Einwohnermeldeamt zum Stichtag 30.1.2009 1909 Patienten über 70 Jahre, das sind 17,2 Prozent der Grünwalder Gesamtbevölkerung, bzw. 925 Patienten über 80 Jahre (8,4%), von denen viele in absehbarer Zeit Ihren Tod finden werden. Viele von Ihnen sind jetzt schon pflegebedürftig, unheilbar erkrankt, langsam progredient verfallend. Diese Patienten wissen meist besser als wir, dass sie sterben müssen und in absehbarer Zeit sterben werden. Mit diesen Patienten müssen wir ins Gespräch kommen, wir müssen sie nach Ihren Wünschen und Ängsten fragen. Welche Form der Sterbebegleitung wünschen sie sich? Wo möchten sie sterben? Im Krankenhaus? Im Pflegeheim? Im Hospiz? Zu Hause? Welche religiösen Aspekte sind Ihnen wichtig? Wovor haben sie am meisten Angst? Unter welchen Beschwerden leiden sie am meisten? Und dann müssen wir nach Lösungen suchen. Viele Ängste können den Patienten und Ihren Angehörigen schon genommen werden, indem wir Ihnen einen kompetenten und jederzeit erreichbaren Ansprechpartner zur Verfügung stellen. Eine suffiziente Schmerztherapie ist eine existentielle ärztliche Pflicht, Morphin hat sich bei schwer zu kontrollierenden Schmerzen vielfach bewährt! Wenn ein Patient zu Hause sterben will, sollten wir alles uns mögliche unternehmen, um ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Will ein Patient im Krankenhaus sterben, sollten wir eine geeignete Klinik, die auf eine Betreuung in der Sterbephase ausgerichtet ist, für ihn finden. Will ein Patient, dass alles medizinisch mögliche unternommen wird, um sein Leben unter allen Umständen zu verlängern, sollten wir ihm auch hierbei behilflich sein.

Die wichtigste Aufgabe des Arztes bei der Lösung einer palliativen Problemsituation: Zuhören. Was möchte der Patient, was sind seine Ängste, seine Beschwerden, sein Wünsche? Was fürchten die Angehörigen, die Schwestern, der Pflegedienst?

Immer wieder sollten wir uns vor Augen führen, dass auch einigen von uns wahrscheinlich kein schneller Tod vergönnt sein wird. Und dass auch wir dann auf einen Menschen hoffen wollen, der uns hilft, unsere schlimmsten Leiden zu ertragen, der Verständnis für die uns verbliebenen Sehnsüchte und Wünsche hat, und der alles ihm mögliche unternimmt, um uns diese Wünsche zu erfüllen. Es geht darum, wie es Cicely Saunders so treffend formuliert hat, "nicht dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben".

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

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[1]Borasio, J. D.; Vortrag beim Sterzinger Palliativtag 2007. http://palliativmedizin.klinikum.uni-muenchen.de/docs/borasio/sterzing.ppt

[2] Heier, M.; Zu Hause sterben. Ein Abschied in Würde. FAZ.net. 1.12.2008

[3] Statitisches Bundesamt, 2007. http://de.statista.org/statistik/daten/studie/240/umfrage/verteilung-der-sterbefaelle-nach-todesursachen/

[4] Oorschot, B.; "Wer zu Hause sterben möchte, sollte diesen Wunsch rechtzeitig äußern"

http://www.dgpalliativmedizin.de/pdf/50525%20Entscheidungsproze%DF%20Tumorpatienten.pdf

[5] Higginson, 1997

[6] Nauck, 2000

[7] Kaplan, Albrecht; Spezialisierte ambulante Palliativversorgung. 2007